Wahltag.
Zahltag, sagt man. Die Politik hat sich von den Menschen entfernt, sagt man.
 
Gerade der Sozialdemokratie wird die angebliche fehlende Bürgernähe nachgetragen, wird die Machtlosigkeit der Basis angekreidet, wird die daraus resultierende Konsequenzlosigkeit bemängelt, wenn sich die Partei, in ihrer unseligen Koalition mit den Christlichsozialen, zu weit vom eigentlichen Ideologischen Boden entfernt.
 
So sagt man halt. Daheim sitzend. Vor dem Fernsehgerät. Politik konsumierend.
 

Und morgen Abend, wenn die Wahl geschlagen ist, und wenn klar wird, wie viel Blut diese einst so stolze Bewegung wieder lassen musste, weil sie angeblich nicht mehr ist was sie einmal war, dann wird man wieder betroffen sein.
Man hat doch sein Bestes gegeben, man ist doch wählen gegangen um den weiteren Aufstieg des Unsäglichen zu verhindern und zu garantieren dass diese Stadt eine moderne, soziale und weltoffene Stadt bleibt. Man hat doch seine Pflicht getan.
 
Aber es waren ja die anderen, die sich jenem zuwendeten der versprach, er würde „es“ für sie richten.
Immer die anderen. Die anderen da oben, die sich entfernt haben, die anderen die sich deshalb aus angeblicher Schwäche und Dummheit dem „starken“ Mann zuwenden.
 
Man selber hat ja seine Pflicht getan. Man war ja wählen. Wie alle paar Jahre.
Seit den Zeiten als die Politik noch besser war, und die Sozialdemokratie noch sozialdemokratisch.
 
So beschwört man bessere Zeiten, als laufend spürbare Verbesserungen für die Bevölkerung, ob Frau ob Mann, ob arbeitend oder auf der Suche, für Kind und Kegel, für Pensionistinnen und Auszubildende, für jung und alt, von Sozialdemokraten erfochten wurden.
 
Sagt man. Vor dem Fernsehgerät. In, für einen Grossteil der Menschen der Welt, unvorstellbarem Wohlstand.
Doch mit diesem Wohlstand, mit dessen Wachstum in einigem Schritt das Engagement der Massen der Elenden schwand, diesem Wohlstand, von Generationen so mühsam erkämpft, kam auch das Vergessen.
 
Vergessen, dass es nicht ein paar „Großkopferte“ da oben waren, die uns menschenwürdige Arbeitszeiten brachten, gerechtere Löhne, gesicherte Gesundheitsversorgung, soziale Absicherung bei Arbeitsverlust und so vieles, das wir heute als selbstverständlich erachten.
 
Unsere Eltern und Grosseltern waren es, organisiert im Grätzl und Bezirk, in Dorf und Gemeinde, in Gewerkschaften und Parteisektionen. Unsere Eltern und Grosseltern, die es sich nicht nehmen liessen, trotz spärlicher Freizeit, die eine oder andere abendliche Stunde in das Wohl der Gemeinschaft zu investieren, das eine oder andere Wochenende der Partei und ihren großen Zielen zu widmen. Unentgeltlich. Einfach weil es notwendig war, und der Kampf es lohnte. Denn Leben war Politik, und Politik war Leben.
 
Da waren WIR noch die Partei, und nicht DIE da, denen wir heute ein Versagen unterstellen wollen, das vielleicht doch im Fehlen unserer eigenen Gemeinschaftsarbeit liegt.
 
Da war es unser gemeinsamer Kampf, und man tat, jeder nach seinen Möglichkeiten, Fähigkeiten und Einflussbereich, was man konnte und was nötig war. Gemeinsam. Sektionsmitglied und Regierungsmitglied. Und es wäre undenkbar gewesen, dass schon wieder einem zugelaufen wird, einem der tatsächlich fast allein da oben sitzt, dessen einfachste Bezirkskandidaten nicht auf ein Plakat dürfen ohne auch sein Konterfei zu präsentieren, einem autokratischen Führer, dessen einzige Verbindung zu den elenden Massen der Hass auf andere ist, den er selber verbreitet.
 
Und da stellt sich diesem Autor die Frage, ob der alte Spruch „wer hat uns verraten…“ nicht uns selber gilt, den sozialdemokratischen Wählern (ehemalige und aktuelle) ohne weiteres politisches Engagement, ohne aktiver Teil dieser wichtigen Bewegung zu sein.
 
Aber das ist graue Theorie, denn am Fernsehgerät läuft grad Politik.
Und wir, wir waren wählen. Wir haben unsere Pflicht getan.
 
<3-lichst, Patricius.    


P.S.: Als Sozialdemokrat schrieb ich dies wohl für Sozialdemokraten, Geltung hat es aber für das gesamte sozial engagierte, antifaschistische politische Spektrum unserer Republik.